Das Marzipanmädchen

Lübeck im 19. Jahrhundert. Lena Johannson erzählt von einer unerschrockenen Frau

Sehr schnell kommt die Geschichte in Fahrt: Marie, ein ungestümes, zu groß und zu schlank geratenes blondes Mädchen (selbstverständlich von verheißungsvoller Schönheit), übernimmt, nachdem ihre beiden Brüder gestorben sind, die Geschäftsführung der familiären Marzipanbäckerei in Lübeck. Und das im Jahr 1871 - ein Mädchen als Geschäftsführerin, das geht doch nicht ...

Wir haben also (wieder) den Plot: schönes, energisches Mädchen wagt den beschwerlichen Schritt in einen von Männern dominierten Beruf (erfolgreich natürlich) und findet die Liebe ihres Lebens. Jetzt kommt es nur noch darauf an, wie Lena Johannson das bewährte Muster umsetzt - z.B. die romantische Spannung.

Gleich zu Beginn erfährt der Leser, dass Maries zukünftiger Enkelsohn den Nachnamen »Andresen« trägt - und weiß somit, dass die leidenschaftliche Affäre zu einem Herrn namens Hansen nicht reibungslos funktionieren wird und eventuell zum Scheitern verurteilt ist. Eine Überraschung ist das also nicht mehr. Dafür hält das Buch einige Enttäuschungen bereit: da wird der Leser auf fesselnde Abenteuer oder Fehden vorbereitet, nur um die dann nicht miterleben zu dürfen. so geschehen im ersten Kapitel, in dem eine aufreibende Schiffsreise nach St. Petersburg stattfindet (auf der Marie auch die Herren Andresen und Hansen kennen lernt). So - jetzt brannte ich darauf, von Maries Abenteuern im zarischen Russland zu erfahren (beginnend im nächsten Kapitel, so vermutete ich). Die ersten Zeilen des nächsten Kapitels (Ankunft in Russland, aufreibende Erlebnisse, Charakterentwicklung, so vermutete ich) musste ich vor Schreck gleich zweimal lesen: »Keine zwei Monate waren vergangen, seit sie das Schiff bestiegen und zum ersten Mal ihre Heimat verlassen hatte. Keine zwei Monate, und doch war Marie Kröger ein anderer Mensch, als sie zurückkehrte«.

Moment mal! Davon, dass Marie jetzt ein anderer Mensch geworden sein soll, habe ich überhaupt nichts mitbekommen!

Damit wären wir beim Problem des Buchs: es erzählt nur nach, nichts erlebt der Leser selbst. Marie, ein glattes, kantenloses Wesen, erlangt zunehmend Ruhm und Geld mit ihrer Bäckerei, prophezeit die bleibende Werbewirkung des Schaufensters und erfindet die Corporate Identity. Nebenbei bewegt sie viel für arme Menschen und benachteiligte Frauen. Aber: all diesen Entwicklungen wird kaum mehr als eine einzige Buchseite zugestanden: so hat Marie einmal die Idee, die Zustände der Lübecker Prostituierten zu verbessern. Also setzt sie sich mit Herrn Hansen zusammen, sie überlegen, 10 Zeilen später ist die Sache durchgefechtet und erledigt. Überraschend leicht fällt das alles, kein Gegenspieler ist in Sicht - bis auf einen Angestellten der Bäckerei, dessen stumpfe Bösartigkeit von Anfang an zu offenstichtlich ist. Umso ärgerlicher und unglaubwürdiger ist, dass es der sonst so klugen und weltgewandten Marie viel zu spät auffällt.

Es ist sicherlich schwierig über eine Figur zu schreiben, die im Prolog und Epilog über 90 Jahre alt ist, während in den 400 Seiten dazwischen die Erlebnisse vom 17. bis zum 50. Lebensjahr erzählt werden. Kann man eine Geschichte über eine so lange Zeitspanne überhaupt spannend und lebendig darstellen, anstatt sie nur nachzuerzählen? Ich schätze schon. Lena Johannson ist es nicht gelungen."

Das Marzipanmädchen
Veröffentlicht:
Medium:
Taschenbuch
Autor:
Lena Johannson
Verlag:
Knaur
ISBN:
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