Die Leibärztin
Sie flieht, heiratet, gebärt, stagniert, betrügt...
Ich mag das Format des Buches, ein großes, stabiles Taschenbuch knapp 550 Seiten. Auf dem Umschlag ein Stillleben: alte Tür mit weißem Knauf, gusseisernes Schloss, in Glas gegossene Blumenumrisse. Ein Umschlag, zeitlos und entrückt wie die Geschichte, die er umhüllt.
»Ein abgebrochenes Medizinstudium. Eine Menge eingebildeter Krankheiten. Der Tod meiner Eltern [...]. Meine erste Flucht, die Sache in Connecticut. Die zweite Flucht. Eine Ehe, eine Schwangerschaft, eine Schwiegermutter. Der Tiefpunkt in Minneapolis. Terminus vitae: das Red Cactus«.
Die Kneipe Red Cactus ist der Ort, an dem uns Autorin Marie Stahlie in ihre Geschichte von der Holländerin Muriel einsteigen lässt. Erst nach und nach erfahren wir, was da passiert ist, mit dem Tod ihrer Eltern, mit der Sache in Connecticut, den zwei Fluchten (Flüchten?), der Schwangerschaft, der Schwiegermutter. Und das ist alles ziemlich deprimierend. Wie der ganze Haufen verlorener Verlierer, die sich im Red Cactus zum Nichtstun treffen und allesamt blöde Spitznamen wie Nonose und Pig tragen, die Rückblenden auf den spielsüchtigen, desinteressierten Gelegenheitsehemann, der intriganten, bösen Ödipuss-Schwiegermutter.
Und so vergehen Monate, nichts geschieht. Stahlie besitzt ein Talent, dieses Nichtstun und Nichtsgeschehen so klar darzustellen, dass die verrinnende Zeit greifbar wird und ich trotz der apathischen und handlungsunfähigen Ich-Erzählerin die Hoffnung nicht aufzugebe, dass sie sich doch irgendwann aus ihrer Lethargie aufrafft, ihr Kind aus den giftigen Armen der Schwiegermutter reißt, aufhört fortzulaufen und Unvermeidliches aufzuschieben, endlich ihr Leben in den Griff bekommt. Und irgendwann zu dem wird, was Titel und Inhaltsangabe versprechen: die Leibärztin einer wohlhabenden alten Dame.
Und es passiert. Doch das löst ihre Probleme nicht, denn auch hier muss sie mit der Angst leben, entdeckt zu werden - schließlich ist sie gar keine echte Ärztin. Und da ist noch diese scheinbar unüberwindliche Mauer, die sie von ihrem Sohn trennt.
Marie Stahlie erzählt aus der Seele ihrer Protagonistin heraus eindrucksvoll klar und rücksichtslos, alles um den Leser herum bekommt ein Gesicht - wenn auch meist ein hässliches, hoffnungsloses: »Was war da noch in mir? Blut. Atem. Ein Marmeladenbrot. Speichel. Schweiß. Kacke. Urin. Wörter. Geheimnisse.«
Ein klasse Buch, das eine gewisse Geduld von seinem Leser verlangt und die Bereitschaft, sich auf eine lange Reise einzulassen.
- Veröffentlicht:
- Medium:
- Buch
- Autor:
- Maria Stahlie
- Verlag:
- btb
- ISBN:
- 3442736080 Bei Amazon kaufen