Die Shakespeare-Morde
Jennifer Lee Carrells faktenreiche, spannende Shakespeare-Schnitzeljagd
Zwischen 1590 und 1623 schreibt William Shakespeare zahlreiche Dramen, Komödien und Tragödien. Er gilt heute als einer der bedeutendsten Dramatiker der Weltliteratur. Ich kenne ihn von Romeo und Julia und ein paar anderen Komödien, hauptsächlich durch die Verfilmungen. Shakespeare zu lesen, das wurde bislang zu keiner Leidenschaft. Ganz anders ging es Jennifer Lee Carrell, die ihren ersten Roman rund um den englischen Dichter geschrieben hat.
Ihre Hauptfigur Kate Stanley (Ich-Erzähler) ist Theaterregisseurin am Globe Theatre in London, als Ros, ihre einstige Mentorin aus Harvard, auftaucht, ihr eine Geschenkschachtel übergibt und von einer unglaublichen Entdeckung spricht. Kurze Zeit später brennt das Globe Theatre und Ros ist tot. »Wenn du die Schachtel öffnest, musst du dem Weg folgen, den sie dir weist«, hat sie gesagt, und so fliegt Kate nach Boston, um den ersten Spuren zu folgen, die Ros für sie gelegt hat. Neben der Schatzsuche um ein verlorenes Shakespeare-Stück geht es dabei um nichts weniger als die Frage, ob Shakespeare gar nicht der Urheber seiner Werke ist, sondern jemand, dessen Bildungshintergrund eher dem eines universalgelehrten Dichters entspricht.
Die (»noch keine 30 Jahre« alte) Kate bekommt zu diesem Zweck einen männlichen Beschützer an die Seite gestellt, über den ich nur erfahre, dass er weit auseinanderstehende grüne Augen hat und groß ist. Eine romantische Spannung entsteht dabei nicht, obwohl klar ist, dass es eigentlich auf eine romantische Nebenhandlung hinauslaufen soll. Bei den sehr rar gestreuten zwischenmenschlichen Momenten will sich so gar kein Gefühl einstellen - nicht einmal Anteilnahme. Das ist schade. Eine romantische Nebenhandlung kann den Thriller nur bereichern, zumal sie einen Kontrast zu den Gefühlen bieten würde, die der mysteriöse Mörder auslöst, der sich zuverlässig stets ein paar hinter Schritte hinter »uns« im Busch versteckt, raschelt und effektvoll seine Stichwaffe zieht.
Jennifer Lee Carrell ist die Verkörperung des Grundsatzes »Schreib über etwas, womit du dich auskennst«. Sie vereint gleich mehrere Charaktere in sich: die Harvard-Professorin Ros und die Theaterregisseurin Kate finden sich beide in ihrer eigenen Biografie wieder. Carrell lehrte Literatur und Geschichte an der Harvard University und führte Regie bei Shakespeare-Aufführungen. Sie schreibt in kurzen und einfachen Sätzen, dicht aufeinanderfolgende Spuren und Hinweise drücken die Geschichte kontinuierlich voran. Schauplätze beschreibt die Autorin sachlich aber anschaulich, mit Emotionen und Charakteren weiß Carrell allerdings nicht recht umzugehen. Die Figuren sind konturlose Wesen, deren Augen- und Haarfarbe ich zwar kenne, die ansonsten aber keinerlei Eindruck hinterlassen. Kate erzählt die Geschehnisse nach und verirrt sich nur sehr selten in einem reflektierten inneren Monolog.
Die Shakespeare-Morde ist ein Thriller nach bewährtem Konzept. Dan Brown zum Beispiel hat (mit vertauschten Geschlechterrollen und da Vinci an Stelle von Shakespeare) etwas ganz Ähnliches gemacht. Die Geschichte ist allerdings nicht ganz so simpel: Jennifer Lee Carrell lässt Dutzende Shakespeare-Verse und gefühlte 100 Namen jonglieren und irgendwo, zwischen all der endlosen Auswertung von Indizien, wusste ich nicht mehr woher und wohin mit all den Grafen und Königen, Müttern und Ehefrauen, den Frances, Bacons und Stanleys, die sich alle irgendwie in verschiedenen Epochen in die Sache verwickelt hatten. Über einen Mangel an Fakten, Hintergründen und Zusammenhängen kann man sich wirklich nicht beklagen. Dennoch: spannend daran ist, dass die Verschwörungstheorien und viele genannte Personen tatsächlich existieren.
Im letzten Drittel spitzt sich die Geschichte zu. Die Zahl der Verdächtigen ist klein, aber es gelingt Carrell, alle davon zu möglichen Verdächtigen zu machen (meiner Meinung nach inklusive der Hauptfigur selbst, bedenkt man, wie gleichgültig sie vieles hinnimmt). Am Ende baut Carrell gar noch einmal eine Wende und eine letzte Überraschung ein. Ein Buch, das ich innerhalb von zwei Tagen durchgelesen habe - mit zunehmender Begeisterung - und das mir, bis auf die emotionale Distanz zu den Figuren, sehr viel Spaß gemacht hat.
- Veröffentlicht:
- Medium:
- Buch
- Autor:
- Jennifer Lee Carrell
- Verlag:
- List
- Kommentar:
- Gelungener Thriller mit kleinen Abstrichen
- ISBN:
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