Die Stunde des Venezianers
Marie Cristen und ihr Mittelalter-Roman im kaufmännischen Flandern
Wenn ich den Buchdeckel eines Romans aufschlage sehe ich gerne eine Landkarte. Dort wird man den Helden also überall hinführen, dann mal los. Was ich nicht so sehr mag sind Stammbäume. Je mehr Namen dran hängen, je mehr Linien zur Seite und nach unten führen, desto ungerner lese ich los: ich möchte die Figuren lieber durch die Geschichte kennen lernen. Im Falle von Die Stunde des Venezianers sind es 21 Namen bei 13 horizontalen und vertikalen Linien (wobei - vergleichsweise wenig, wenn man an die Prinzen und Rebellen von Irland denkt).
Ich habe natürlich umgeblättert. Und direkt bis zur Seite 62 (bzw. Kapitel vier) gelesen, um dann eine längere Pause einzulegen. Das Lesen fiel mir nicht ganz leicht. Erwartungsgemäß prasselten viele Namen auf mich ein und noch bevor ich wusste wann und warum ich wo in der Geschichte bin, kannte ich schon die Familienverhältnisse, Altersangaben, Gesichtsfalten und Charaktereigenschaften zweier Personen, die sich im Stammbaum unter den Namen »Violante« und »Jean-Paul« wiederfinden.
Im nächsten Moment wird ein Mädchen vor der Pest gerettet - dass es sich hierbei um die Protagonistin des Buchs handelt, wird spätestens dann klar, als sie (nunmehr eine junge Frau) von der Großmutter als »klug, eigenwillig und zu schön, um nicht den Neid anderer Frauen zu erwecken« beschrieben wird. Das macht sie zu einer von unzähligen anderen Heldinnen historischer Romane mit exakt denselben Attributen.
Um es kurz zu machen: Die kluge eigenwillige Schöne namens Aimée, heiratet schnell. Den geübten Leser historischer Romane wundert's nicht: damit aus Aimées vorteilhaften Talenten auch etwas werden kann, muss der Ehemann sterben. Nachdem dieser Punkt also abgehakt ist, macht sich Aimée als Handelsherrin im Brügge des 14. Jahrhunderts einen Namen und wird auf ihrem Wege allerlei Schwierigkeiten und Verlockungen ausgesetzt.
Mich stören unrealistische Züge und Handlungen der Hauptperson, einige Längen und ein gehetztes Ende. Das Buch ist aber nicht schlecht: es ermöglicht zum Beispiel, das kaufmännische Treiben des mittelalterlichen Flandern detailliert kennen zu lernen. Dass dies auch realistisch dargestellt ist, ließ sich die Autorin durch »viele Historiker« absichern. Ich bin sicher, es wird viele begeisterte Leser finden: sie erwartet eine feministische Geschichte, Liebeswirren und mittelalterlicher Flair. Wer gut recherchierte historische Romane mit erotischen Frauen und starken Männern liebt, wird mit diesem Buch sehr zufrieden sein.
- Veröffentlicht:
- Medium:
- Buch
- Autor:
- Marie Cristen
- Verlag:
- Knaur
- ISBN:
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